Archäologie des Lebensstandards
Wie ging es den Menschen in der Vergangenheit - insbesondere im frühen Mittelalter / der Merowingerzeit? Mein Projekt "Archäologie des Lebensstandards" umfasst eine Folge von Studien, die diese Frage aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Gemeinsam ist ihnen, dass die Merowingerzeit durchgehend im Fokus des Interesses steht, aber eine epochenübergreifende Perspektive eingenommen wird.
Die Körperhöhe gilt bei Menschen als vorwiegend genetisch angelegt. Aber ob ein Individuum das genetisch Angelegte auch ausschöpfen kann, hängt stark von seinem Lebensstandard in seiner Kindheit und Jugend ab. Da Menschen mit ca. 18 - 21 Jahren ausgewachsen sind, ist die Lebensqualität ihrer Kindheit und Jugend im Knochen der Erwachsenen "fossilisiert".
Weil der menschliche Körper sich an seine Umweltbedingungen anpasst, gelten Körpergewicht und BMI als Indikatoren des Ist-Zustandes eines Individuums in seinen letzten Jahren vor dem Tod. Der Durchmesser des Femurkopfes ist ein solider und gut bekannter, jedoch selten angewandter Schätzer für das Körpergewicht. Meine Studie zeigt: die Menschen des Frühmittelalters waren mehrheitlich gut ernährt, Anzeichen eines dauerhaftes knappes Leben fehlen.
"Demographie": Beschreibung der Geschlechts- und Alterszusammensetzung einer Population, Beschreibung ihrer Entwicklung. Die Menschen im Frühen Mittelalter haben sich innerhalb von ca. 150 Jahren zahlenmäßig verdreifacht: Zeugnis einer vitalen Bevölkerung mit überwiegend guten Lebensbedingungen. In einer Studie über die Bevölkerungsentwicklung in der Merowingerezit wird diese beträchtliche Dynamik aufgezeigt. Ihre Quantifizierung nach den in der Demographie üblichen Kennzahlen schafft eine Vergleichbarkeit auch mit anderen ur- und frühgeschichtlichen Epochen, aber auch der heutigen Welt.
Eine weitere Studie fragt nach der mittleren Lebenserwartung in der Merowingerzeit. Die Antwort ist komplex, denn eine wachsende Bevölkerung mit anteilig vielen (überlebenden) Kindern und jungen Menschen hat eine scheinbar geringe Lebenserwartung im Vergleich zu einer statischen Populationen mit ähnlicher Lebenserwartung. Hier gilt es, methodische Ansatzpunkte zu finden, bevor die historischen Tatsachen herausgearbeitet und dargelegt werden können.
Nachfolgend Skizzen ausgewählter Ergebnisse:
Körperhöhe
Die Entwicklung der mittleren Körperhöhe (in cm, Schätzungen nach Pearson 1899) von erwachsenen Frauen und Männern in den Epochen der Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas. Die Balken zeigen die Spanne, in die 50% der erfaßten Populationen fallen, und als Mittelwert den Median (schwarzer Balken). Die waagerechte, dünne gestrichelte Linie gibt zur Orientierung den epochenübergreifenden Mittelwert wieder. Die Merowingerzeit ist die Epoche in Mitteleuropa mit den größten Frauen und Männern, d.h. einer Kindheit und Jugend mit einem relativ hohen Lebensstandard.
Körpergewicht und BMI (Body mass index)
Der mittlere BMI von erwachsenen Frauen und Männern in den ur- und frühgeschichtlichen Epochen Mitteleuropas. Die Balken zeigen die Spanne an, in die 50% der erfaßten Populationen fallen, und als Mittelwert den Median (schwarzer Balken). Die waagerechten gestrichelten Linien zeigen den Mittelwert über die gesamte beobachtete Zeit hinweg (Frauen: rote Linie, Männer: blaue Linie). Der BMI wurde berechnet nach der mittleren Schätzung des Körpergewichts (Auerbach/Ruff 2004) und Körperhöhenschätzungen nach Pearson (1899); vgl. dazu Siegmund 2010. Für die Eisenzeit stehen bislang keine Daten zur Verfügung.
Mittlere Lebenserwartung
Mittlere Lebenserwartung von Frauen und Männern in den Epochen der Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas. Dargestellt ist die Lebenserwartung derjenigen Individuen, die das Erwachsenenalter erreichten, d.h. je nach vorliegenden anthropologischen Altersbestimmungen die Werte e14 plus 14, e15 plus 15 oder e18 plus 18. Dadurch bleibt die stark von der Quellenlage abhängige unterschiedliche Kindersterblichkeit ausgeklammert. Die Balken zeigen die Spanne, in die 50% der erfaßten Populationen fallen, und als Mittelwert den Median (schwarzer Balken). Die waagerechte, dünne gestrichelte Linie gibt zur Orientierung den epochenübergreifenden Mittelwert wieder. Die Sammlung erfaßt nur Serien, bei denen die Altersbestimmung der Skelette nach der sogenannten Komplexen Methode erfolgte (Ferembach, Schwidetzky & Stloukal 1980).
Publikationen
F. Siegmund, Die Körpergröße der Menschen in der Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas und ein Vergleich ihrer anthropologischen Schätzmethoden (Books on Demand: Norderstedt 2010). - 156 Druckseiten, 52 Tabellen, 6 Tafeln. - ISBN 978-3-8391-5314-7. (mehr)
F. Siegmund, Körpergewicht und BMI bezeugen einen hohen Lebensstandard im europäischen Mittelalter. EAZ - Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 51 (1/2), 2010 (2012), 258-282. (PDF, 210 kB).
F. Siegmund / Chr. Papageorgopoulou, Body mass and body mass index estimation in medieval Switzerland. Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 17, 2011, 35-44. - PDF, 166 kB.
Zitierte Literatur
B. M. Auerbach, Chr. B. Ruff (2004). Human Body Mass Estimation: A comparison of "morphometric" and "mechanical" methods. American Journal of Physical Anthropology, 125, 331–342.
D. Ferembach, I. Schwidetzky, M. Stloukal (eds.) (1980). Recommendations for age and sex determination of skeletons. Journal of Human Evolution 9, 517-549.
K. Pearson, On the reconstruction of the stature of prehistoric races. Mathematical contributions to the theory of evolution 5. Philosophical transactions of the Royal Society of London A 192. London 1899. pp. 169-244.
Chr. B. Ruff et al., Stature and body mass estimation from skeletal remains in the European Holocene. American Journal of Physical Anthropology 148, 2012, 601-617.
K. Staub, F. Rühli, U. Woitek, Chr. Pfister (2011). The average height of 18- and 19-year-old conscripts (N=458 322) in Switzerland, 1992-2009, and the secular height trend since 1878. SMW Swiss Medical Weekly, 141, w13238. - Link.
(Stand: Sept. 2023)